Classic Book Time #3 – Marienkind

Titel: Marienkind | Autor*in: Gebrüder Grimm

Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren.

Marienkind ist eines der unbekannteren Märchen und definitiv eines, bei dem sich der Leser recht bald fragt, was die Leute damals so geraucht haben. Immerhin gibt es weitaus einfachere Möglichkeiten, um ein Kind zu traumatisieren, als Maria – ja genau DIE Maria – als komplett gestörte Irre hinzustellen.

Alles beginnt mit einer armen Familie, die nicht weiß, wie sie genug Essen für den nächsten Tag aufbringen soll. Sie führen ein hartes Leben, und als dann plötzlich eine schöne, große Frau im Wald erscheint und sich als Maria, die Mutter des Christkind vorstellt, glauben sie ihr natürlich. Genau, weil solche Leute eben immer random durch den Wald laufen. Mir begegnen auch ständig irgendwelche Heilige. Total normal.
Und Maria bietet ihnen freundlicherweise an, das Kind aufzunehmen und im Himmel zu versorgen. Selbstverständlich glauben ihr die Eltern und geben das Kind in ihre Obhut. Heutzutage würde man das Entführung oder Kinderhandel nennen. Ich entscheide noch. Aber gut, damals war eben alles einfacher. Selbst der Diebstahl von Kindern.
Maria nimmt das Kind also mit in den Himmel und es gibt jeden Tag Leckereien und goldene Kleider. Was ich übrigens ein ganz furchtbares Bild finde, wenn man bedenkt, wie arm die Bevölkerung in diesem Märchen dargestellt wird. Sie hätte denen ja auch einfach mal helfen können, anstatt ihnen das Kind wegzunehmen.
Eines Tages begibt sich Maria dann auf eine Reise und übergibt dem Kind – scheinbar hat sie dem Mädchen bis dahin keinen Namen gegeben – die dreizehn Schlüssel der Himmelstürme. Sie darf in 12 hineinsehen, nur der dreizehnte muss verschlossen bleiben. Und weil Kinder eben Kinder sind, schaut unser Marienkind eben doch in den 13. Turm hinein und vergoldet sich dabei versehentlich ihren Finger an der Dreieinigkeit. Als Maria wieder auftaucht, erkennt sie, was das Mädchen getan hat, und stellt sie zur Rede. Doch obwohl sie dreimal fragt, lügt das Mädchen sie an. Daraufhin verbannt Maria das Mädchen in die absolute Einöde eines tiefen, dunklen Waldes.
Wie dermaßen reagiert diese Frau bitte über? Sie merkt, dass das Herz von Marienkind vor Angst laut pocht, und wirft sie nicht nur wegen solch einer Kleinigkeit aus dem Himmel, sondern beraubt sie auch ihrer Stimme. Was wäre bitte passiert, wenn sie wirklich was Schlimmes gemacht hätte? Und nicht nur für ein paar Tage. Nein, das Mädchen muss wie ein wildes Tier im Wald leben, sich von Nüssen, Beeren und Wurzeln ernähren und im Winter hoffen, nicht zu erfrieren. Und nur wegen einer kleinen Flunkerei?
Zu ihrem großen Glück reitet allerdings eines Tages ein Königssohn durch den Wald, trifft auf unser Marienkind und verliebt sich augenblicklich in ihre Schönheit. Hust … Wir erinnern uns kurz an die Tatsache, dass das Mädchen so lange im Wald in einem Baum lebt, dass seine Kleider sich schon aufgelöst haben. Was für einen Fetisch hat bitte dieser Prinz?
Es dauert auch nicht lange und die beiden heiraten. Marienkind scheint endlich ihr Happy End gefunden zu haben und sie bekommt einen Sohn. Leider ist Maria in diesem Buch ein echtes Miststück, kommt nach der Geburt der Kinder und raubt das Kind, da Marienkind noch immer ihre kleine Lüge von damals nicht gestehen will. Und da die Leute heute wie damals eine gute Geschichte lieben, denkt niemand an etwas Banales wie Kindesentführung, sondern ihr wird vorgeworfen, ihr Kind gefressen zu haben. Ja … wir merken also, auch ohne die BILD-Zeitung gab es schon reißerische Geschichten.
Auch bei den nächsten zwei Kindern passiert exakt das gleiche. Mal ganz von der Tatsache abgesehen, das Marienkind auch etwas dämlich ist, weil sie es nicht einfach zugibt, frage ich mich doch was Maria bitte für einen gestörten Charakter hat. Diese Strafe übersteigt jegliche Vernunft und hat etwas fast schon Diktatorisches an sich. Maria will hier nur ihre Machtposition ausspiele und geht sogar so weit, einer Mutter extremen seelischen Schaden zuzufügen, nur um am Ende recht zu haben.
Nach dem dritten Kind kann auch der König, der sie über alles liebt, nicht mehr beschützen. Es wird ihr der Prozess gemacht, bei dem sie sich aufgrund ihrer Stummheit nicht selbst verteidigen kann, und droht auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Erst hier gesteht sie ihre kleine Lüge, wird von Maria gerettet und sie bekommt sogar ihre Kinder wirder.

Sie sprach freundlich zu ihr „wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben“, und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben.

Heilige Scheiße … was für eine heuchlerische Kuh ist das bitte? Soll Marienkind jetzt dafür dankbar sein, dass Maria ihr im Grunde das ganze Leben versaut hat? Mal ganz davon abgesehen, dass sie vermutlich total traumatisiert nach all dem ist. Aber hey, wenigstens darf sie jetzt mit der Erlaubnis des Himmels glücklich sein!

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Leni
Leni
11 Tage zuvor

Huhu Ruby,

es ist offiziell: Ich liebe dieses Format bei dir! <3

Das Märchen sagte mir noch gar nichts. Ich musste aber schon bei „…was die Leute damals so geraucht haben“ lachen. Also man merkt auf jeden Fall sehr konkret, was das Buch vermitteln soll a la „nicht Lügen liebe Kinder“. Es ist aber doch sehr extrem, da hast du recht. =D

Frage: Wie konnte sie ihre Lüge gestehen, wenn sie stumm war?

Ganz liebe Grüße
Leni

Tanja von Der Duft von Büchern und Kaffee
Tanja von Der Duft von Büchern und Kaffee
8 Tage zuvor

Huhu Ruby,
auch diese Geschichte sagte mir noch nichts. Du schürst mal wieder meine Lust zu Klassikern zu greifen und da ich aktuell irgendwie nur bedingt vorwärts komme mit dem Lesen, freue ich mich umso mehr über diese geniale neue Beitragssparte.

Die Geschichte ist wirklichwirklich krass! Schon alleine der Vorwurf, dass die Mutter ihre Kinder gegessen haben soll. Aber auch das Ende: Sie gesteht und schon bekommt sie die Kinder zurück?!

Heftig. Vielen Dank für diesen wirklich unterhaltsamen und spannenden Beitrag!

Ganz liebe Grüße
Tanja :o)

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