24 Herzmomente für die Weihnachszeit – Türchen 21

Zeit für Entspannung! Also lasst euch etwas verwöhnen. Schnappt euch ein Heißgetränk ☕eurer Wahl und lasst euch in eine kleine Weihnachtsgeschichte entführen. ☕☕

Etwas echtes

Seit fast drei Stunden saß dieser Typ dort draußen vor unserer Bäckerei auf dem Bordstein und starrte jeden böse an, der es wagte, ihm ein »Frohe Weihnachten« entgegenzuschmettern. Und das waren am 23. Dezember eine ganze Menge. Der Kerl war also dementsprechend beschäftigt.
Anfangs fand ich es ehrlich gesagt noch lustig. Immerhin gab es wenige Leute, die den Grinch so formvollendet personifizieren konnten wie er. Inzwischen jedoch hatte sich Mitleid in meine Belustigung geschlichen. Ob er auf jemanden wartete und versetzt wurde? Vielleicht studierte er an der gleichen Uni wie ich und jemand hatte ihn über die Semesterferien mitnehmen wollen. Eine abgesprungene Fahrgemeinschaft konnte einem schon einmal die Stimmung verhageln. Gerade wenn Weihnachten vor der Tür stand und man doch eigentlich nur nach Hause zu seiner Familie wollte.
Mit einem Seufzen wischte ich mir den Zuckerguss von den Fingern und schnappte mir meinen Regenschirm aus der Ecke. Inzwischen hatte es angefangen zu schneien, und sollte der Kerl weiterhin vorhaben, dort draußen zu sitzen, würde er sich in der dünnen Jacke vermutlich den Tod holen. Eine ohnehin dumme Wahl, gerade bei dieser Witterung, doch ich hatte schon lange aufgegeben, zu hinterfragen, was das männliche Geschlecht so tat, um seine Coolness zu unterstreichen. Sich anbahnende Lungenentzündung hin oder her.
Entschlossen verließ ich den Laden und hielt den Schirm über ihn. »Hey, wenn du willst, kannst du in der Bäckerei warten.«
Er hob den Kopf, und das Erste, was mir auffiel, war, dass er die wohl bemerkenswertesten blauen Augen hatte, die ich je gesehen habe. »Ich könnte ein Serienmörder sein?«
»Und ich die Hexe aus dem Zuckerwald. Überleg dir mal, wer hier gerade die schlechteren Karten hat.«
Er kicherte. Ein angenehmer, überraschend warmer Klang.
»Also?« Ich strecke ihm die Hand entgegen. »Oder willst du lieber noch ein paar Stunden hier draußen sitzen und erfrieren?«
»Erfrieren?« Er hob kurz die Augenbraue, nahm dann aber meine Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. »Hast du mich etwa beobachtet?«
»Klar. Man sieht nicht so oft einen Grinch in seinem natürlichen Lebensraum. «Ich ließ ihn los und rieb meine Hände aneinander.» Oder einen Schneemann. Bist du überhaupt noch am Leben?«
»Ich bin nicht ganz so sensibel, was Kälte betrifft.«
»Es sind minus zehn Grad.«
Er besaß tatsächlich die Frechheit, eine Augenbraue anzuheben. »Und?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Dann bleib halt ein Tiefkühlgericht.«
Als ich mich umdrehte und zurück in die Bäckerei stapfte, folgte er mir. Wie es schien, fand er die Kälte dann doch nicht so verlockend. Oder er wollte einfach weiteren Weihnachtsgrüßen entgehen. Wer wusste das schon zu sagen?
»Also gabelst du öfter Fremde vor deinem Laden auf?«
»Nur, wenn ich sie als billige Arbeitskräfte missbrauchen kann.« Mit einem Grinsen warf ich ihm eine Schürze zu. Sie war mit unzähligen grinsenden Lebkuchenmännchen bedruckt und gerade peinlich genug, um fast schon wieder süß zu sein. »Ich muss noch die Kekse fertig machen und da du schon einmal hier bist …«
»Ich wusste nicht, dass das hier eine Entführung ist.«
»Tja, mein genialer Plan ist wohl aufgeflogen.« Ich grinse ihn an. »Ich bin übrigens Maya.«
»Nick.« Seine Mundwinkel zuckten, als er die Theke umrundete und etwas ratlos auf die ganzen Kekse hinabblickte, welche sich auf der Arbeitsfläche türmten und auf ihre Extraportion Zucker und Schokolade warteten. »Ich habe ewig keine Kekse mehr dekoriert.«
»Das erklärt natürlich deine miese Laune. Sowas gehört einfach zu Weihnachten dazu.«
»Für mich gehört eher Stress dazu«, brummte Nick, allerdings so leise, dass ich es vermutlich gar nicht hören sollte. Also tat ich ihm den Gefallen und reagierte nicht darauf, konnte allerdings nicht verhindern, dass sich mein Kopf auf diese Information stürzte. Vielleicht beruhte seine miese Laune gar nicht auf einer abgesprungenen Fahrgemeinschaft. Vielleicht hatte er Probleme mit seiner Familie?
»Ich verspreche dir, es ist ganz einfach. Du suchst dir einen farbigen Zuckerguss aus und versuchst, kein allzu großes Chaos zu veranstalten.«
»Für wie alt hältst du mich?«
»Fünf?«
Er rempelte mich mit der Schulter an.
»Okay, okay. Sechs.«
Nick lachte leise, und ich konnte mir ein absolut unpassendes Grinsen nicht verkneifen, als er mit ergebenem Gesichtsausdruck den ersten Keks in die Hand nahm und sich ans Werk machte. Zehn Minuten später musste ich mich mit der Hand an der Theke abstützen, um nicht vor Lachen in die Knie zu gehen. »Du solltest einen Weihnachtskeks dekorieren, nicht denjenigen, der das Unglück hat, diesen zu essen, verfluchen.«
»Ich finde ihn ganz gelungen«, bemerkte er und betrachtete den Albtraum aus grünem und blauem Zuckerguss. »Er hat Charakter.«
»Ja, den eines Serienmörders.«
Nick lachte leise und griff nach einem weiteren Keks. Die nächste halbe Stunde verging in gemütlichem Schweigen, während wir uns durch die Plätzchen arbeiteten und bald genug dazu übergingen, uns bezüglich des hässlichen Designs zu überbieten. Am Ende sahen unsere Kreationen in etwa so aus, als hätte man eine Horde Dreijähriger darauf losgelassen. Ich hüstelte. Meine Eltern würden mich vermutlich umbringen, sollten sie das je erfahren. Noch ein Grund mehr, den Botengang nicht allzu lange aufzuschieben. Zu meiner Überraschung fragte Nick, ob er mitkommen konnte. Ich hatte nichts dagegen, er war immerhin eine ziemlich angenehme Gesellschaft, aber ein wenig hatte ich damit gerechnet, er würde den ersten Moment nutzen, um all dem hier zu entkommen. Besonders, wenn man bedachte, dass ich ihn fast schon dazu gezwungen hatte, sich bis zu den Haaren mit Zuckerguss zu bekleckern.
Eine halbe Stunde später, und mit deutlich weniger Glitzerstreuseln in den Haaren, machten wir uns auf den Weg. Der Weg war nicht weit und führte über den altertümlichen Weihnachtsmarkt. Fröhliche Weihnachtslieder schollen aus versteckten Lautsprechern, während der Duft von Keksen, gebrannten Mandeln und anderen Leckereien durch die Luft wehte. Vermutlich würde ich auf dem Rückweg nicht widerstehen können, mir eine Leckerei zu gönnen.
»Ich glaube, ich habe das vergessen«, meinte Nick langsam.
»Was?« Ich sah ihn an.
»Das hier.« Er deutete mit einem leichten Nicken nach vorn. »Ich habe Weihnachten vergessen – also das Echte. Nicht die Version voller übergroßer Wünsche, perfektionistischer Erwachsenen und verbitterter Familien, die diese Tage nur nutzen, um sich noch mehr zu verletzen.«
»Oh …«
»Ja.« Er lächelte mich leicht an und ich konnte nicht verhindern, es zu erwidern. »Ich habe vergessen, dass das nicht alles ist.«
»Sahst du deswegen auf der Straße?«
»Ja … Nein ….« Nick seufzte. »Für meinen Dad ist Weihnachten eine richtig große Sache, und er erwartet, dass es das für mich auch ist. Familientradition und so.«
»Und du willst das nicht?«
»Ich will es nicht so.« Er schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen. »Ich will etwas Echtes.«
Der Satz hing zwischen uns. Bedeutungsvoll, auch wenn ich das Gefühl hatte, die wahre Tiefe seiner Worte nicht ganz greifen zu können.
»Okay.« Ich nahm seine Hand. »Dann zeige ich dir etwas Echtes.«
Das Mehrgenerationenhaus, welches unser Ziel war, war ein altes Backsteingebäude mit dunklen Holzbalken, welche wie Lachfalten die Fassade durchzogen. Es wirkte auf mich immer wie ein alter Freund, dessen Mantel vielleicht schon etwas abgetragen sein mochte, der aber immer ein warmes Lächeln für einen übrig hatte. Und ich hatte das Gefühl, dass Nick dieses warme Lächeln gerade viel mehr brauchte, als ihm selbst bewusst war.
Die Tür war nicht verschlossen. Warme Luft und fröhliches Geplapper schlugen uns entgegen. Irgendwo lachten Kinder. Ich sah einen älteren Mann, der zwei verschiedene farbige Stricksocken trug und einem Mädchen die hohe Kunst perfekt geschälter Mandarinen näherbringen wollte. Die Kleine kicherte jedoch nur und aß die süßen Früchte einfach so.
»Oh, hast du einen Freund mitgebracht, Maya?«, begrüßte uns eine lächelnde Frau, die alle nur J nannten. Manchmal fragte ich mich, ob sie ihren richtigen Namen überhaupt noch wusste.
»Arbeitssklave«, korrigierte Nick, und ich sah seine Augen vor Schalk aufblitzen.
»Wer es verdient.« Ich überreichte die Plätzchen. »Sie sind … ein wenig kreativer geworden«, umschrieb ich diplomatisch den Inhalt der Dosen.
Natürlich musste J reinschauen. Im nächsten Moment fing sie an zu lachen und lockte damit natürlich auch die anderen Bewohner an, welche in Hörweite waren. Bald schon umringten sie J und immer wieder wurden Kekse herausgeholt und ein erneutes Lachen ging durch die Gruppe.
»Sie sind absolut perfekt«, erklärte J und zwinkerte dabei Nick zu. »Danke.«
»Es war mir eine Freude.« Wärme lag in seiner Stimme.
J. lachte leise, wandte sich dann ab, um die Dosen vor der wilden Meute in Sicherheit zu bringen.
»Und?«
»Ja.« Er atmete langsam aus. »Das meinte ich mit echt.«
Ein paar lange Momente sah er den Menschen zu. Fast als würde er jeden Atemzug, jedes Lachen, jede der kleinen, warmen Gesten sammeln, um sie zu hüten wie einen Schatz. Das Leuchten der Lichterketten spiegelte sich in seinen Augen.
Ich setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Nick kam mir zuvor.
»Danke.« Das war nicht das übliche, schnell dahingesagte Wort. Es war ein Danke, das schwer und leicht zugleich war. Bedeutungsvoll. Warm. »Du hast mir … etwas zurückgegeben.«
Meine Finger kribbelten. Die Ahnung einer Verbindung, auch wenn er mich nicht berührt hatte.
»Ich muss jetzt gehen.«
»Was?« Ich blinzelte. Überrumpelt durch den plötzlichen Abschied. »Wohin denn?«
»Das würde merkwürdig klingen.«
»Ich habe heute schon eine Menge merkwürdiger Dinge erlebt«, meinte ich und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der entschwindenden Plätzchendose. »Also?«
»Du bist ganz schön neugierig.«
»Ja, das höre ich öfter.«
Er lachte leise, streckte dann die Hand aus und strich leicht mit den Fingern über die Meinen. Die Berührung ließ meine Haut kribbeln. »Danke, dass du mein Weihnachtswunder warst.«
Ich öffnete den Mund, unsicher, was ich darauf antworten sollte, als er sich mit einem letzten Lächeln umdrehte und das Haus verließ. Ich brauchte drei Sekunden, um ihm zu folgen, doch die Straße vor dem Haus war leer und Nick verschwunden, als hätte die Nacht selbst ihn verschluckt. Für einen Herzschlag glaubte ich jedoch, in der Ferne das leise Klingen kleiner Glöckchen zu hören – so zart, dass es ebenso gut der Wind gewesen sein könnte.

1 Jahr später

Wie immer am 23. Dezember war ich alleine in der Bäckerei. Meine Eltern lieferten die Bestellungen aus und die wenigen, die sich jetzt noch für Kekse und heiße Schokolade hierher verirrten, konnte ich an einer Hand abzählen. Genug Zeit also, um letzte Hand an die Plätzchen für unsere jährliche Lieferung an das Mehrgenerationenhaus zu legen. In diesem Jahr waren sie wieder perfekt. Schneemänner mit lachenden Gesichtern, süße Rentiere und winkende Weihnachtsmänner. Und wie jedes Jahr liebte ich es, dem buttrigen Gebäck Leben einzuhauchen, und doch … fehlte einfach etwas.
Mit einem Seufzen ging ich in die Hocke, um eine der übergroßen Schleifen unter der Theke hervorzuholen, welche meine Mom derzeit so gerne auf den Dosen sah, als die Türklingel ertönte.
»Was kann ich für Sie tun?«, frage ich, den Kopf noch halb unter der Theke.
»Ich hätte gerne den am schlechtesten dekorierten Keks, den ihr auf Lager habt.«

Ende

Morgen findet ihr Türchen 22 mit dem Thema „Nostalgischer Weihnachtszauberbei der lieben Aleshanee von Weltenwanderer

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